Eröffnungsrede zur Ausstellung Daily

DAILY
Anna Anders, Anja Bohnhof, Željko Božičević, Edward B. Gordon,
Martin Graf, Gudrun Knapp, Paula Pelz, Jens Risch, Horst Peter Schlotter,
Willy Wiedmann
Kunstbezirk, Galerie im Gustav-Siegle Haus, Stuttgart 12.11.2021 – 21.01.2022
Eröffnung der Ausstellung am Freitag, 12. November 2021, 19.00 Uhr
Insbesondere bildenden Künstlerinnen und Künstlern, mehr noch den im Bereich der
Literatur Tätigen diente es häufig als altbewährtes Motto: Nulla dies sine linea! Kein
Tag sei ohne Linie (ohne zu zeichnen)! Kein Tag ohne eine Zeile (zu schreiben)! Der
vielzitierte – wenn auch nicht nachweisbare – Ausspruch wird gewöhnlich Plinius d.
Ä. in den Mund gelegt, der einen sportiven Wettstreit der beiden antiken Maler
Apelles und Protogenes zu schildern vorgibt, wer denn von den beiden mit Hilfe eines
Pinsels die feinere Linie zu ziehen vermöchte. Im Arbeitszimmer von Émile Zola zierte
die Parole sogar dessen Kaminaufsatz – auf andere Weise hätte der französische
Autor mit bekanntermaßen penibelst eingehaltenem täglichen Schreibplan wohl auch
kaum seinen 20-bändigen Romanzyklus der Rougon-Macquart zustande gebracht.
Was nun aber bei Plinius oder Zola eine Frage bloßer technischer Finesse oder von
ungeheurem Fleiß und Durchhaltevermögen ist, stellt sich angesichts der 10
künstlerischen Positionen, die in der aktuellen Ausstellung DAILY versammelt sind,
doch deutlich anders dar.
Dieser Reigen eines kontinuierlichen weil täglichen Tuns umfasst die Medien von
Zeichnung (analog wie digital), Malerei, Materialarbeiten und Objekte, Fotografie,
Video-Installation und reichhaltige Künstlerbücher, die von Vorgenanntem Mehreres
zugleich enthalten. Mal bestimmen Ausdrucksmittel und Technik, mal das
Konzeptuelle und dann wieder die inhaltliche Auseinandersetzung mit Thema und
Motiv das Spektrum, mitunter auch schlicht die vorgegebenen äußeren Umstände.
Beim Rundgang durch die Ausstellung wird jedenfalls schnell klar, dass das
Repetitorium des scheinbar immer Gleichen offensichtlich doch vielfältige
Erkenntnisse eines auch überraschend Neuen und Anderen ins sich trägt.

Täglich wiederkehrende Rituale und Routinen prägen unseren Alltag. Für die einen
vermitteln sie verlässliche Strukturen, die dem Leben Halt geben, für die anderen nur
bis zum Überdruss erschöpfende Langeweile. Was für den Einen disziplinierte
Übungen bis zur vollkommenen Meisterschaft bedeuten, mutet die Andere als
sisyphotisch vergebliche Liebesmüh und ermüdende Zeitschleifen ohne jeden Sinn
und Verstand an. Tag um Tag ist nicht immer guter Tag, aber eben doch oft:
Konzentration auf das Beiläufige, leicht zu Übersehende, stille Versenkung in ein
meditativ zielloses Für-Sich-Sein, das aufmerksame Messen verbrachter und
verbrauchter Zeit gleich Lebenszeit und damit Selbstvergewisserung,
Weltvergewisserung.
Doch diese – die Welt und ihre Dinge darin und deren künstlerische Aneignung –
verändern sich ganz gewaltig, wenn etwa Jens Risch (*1973, Berlin) aus einem
1.000 Meter langen Zwirnfaden ein knoll-koralliges Gebilde knotet (vgl.
Einladungskarte zu dieser Ausstellung). „Der Knoten bin ich.“, sagt der Künstler und
befasst sich täglich mit seiner Knotenarbeit, die die Linie in einen Körper (quasi einen
Zeitklumpen, vgl. Andreas Bee) verwandelt, ein Raum-Zeit-Kontinuum der
besonderen Art. Akribisch sind die Knotenzeiten auf Monatsblättern dokumentiert
und zu kalenderartigen Jahrestableaus zusammengefasst.
Eine genaue Vermessung von Objekt, Ort und Zeitdauer – jeweils mit einem Stempel
zu den exakten Angaben versehen – zeigt das Scharrenberger Zeichnungsarchiv von
Željko Božičević (*1965, Stuttgart). Als Work in Progress konzipiert, spielt das Sujet
Weinstock, der dargestellte Bildgegenstand – so sehr sie individualisierten
Pflanzenportraits gleichen mögen – als selbständiges und technisch virtuos
ausgeführtes Werk überhaupt keine Rolle. Vielmehr dienen die pleinairen
Zeichnungsexerzitien als Selbstversuch in der Auseinandersetzung mit einer
Kulturlandschaft im Spannungsfeld von Natur und urbanem Raum auf der
Degerlocher Höhenlage.
Keine vegetabilen Erscheinungen im eigentlichen Sinn, aber doch ein geradezu
biomorphes Anwachsen von Linienwerk und Linienschwärmen prägt den Block von

Zeichnungen von Gudrun Knapp (*1960, Stuttgart). Die für sie charakteristische
Ausdruckssprache körpernaher Bewegungsbilder ist aufgrund coronatechnischer
Einschränkungen inzwischen ins kleine Format und in eine eher intime, allabendliche
Zeichenarbeit überführt worden. Dennoch vermitteln die auf grauem Karton geführten
Lineamente (weiß, schwarz, rot) grundsätzliche Aggregatzustände von Auflösung und
Verdichtung, Abstand und Nähe, die vom mikroskopisch Kleinen in kosmische Weiten
gedacht werden können: eine Linie steckt hier die nächste Linie an.
Fotografische und filmische Präparationen des Alltäglichen haben Anja Bohnhof
(*1974, Dortmund) und Anna Anders (*1959, Berlin) angelegt. Alltagswelten
zwischen Süden und Norden, wie sie verschiedener nicht sein könnten: In einer
eindrucksvollen Reihe zeigt Anja Bohnhof Lastenträger und -Fahrer in Kalkutta. Von
der Fotografin aus ihrer gewöhnlichen Umgebung isoliert, erscheinen die verarmten
Männer, die jeden Tag mit einfachsten Mittel um ihre Existenz kämpfen müssen,
unversehens wie heroische Zauberer. Mit angemessenem Stolz bewegen sie
unglaubliches Transportgut, jonglieren fragilste Gebilde und sorgen so tagtäglich
dafür, dass der Lauf der Dinge – insbesondere der der ökonomischen Dinge der
Wohlhabenderen – nicht aus den Fugen gerät.
Scheinbar heile Welt dagegen in Seyðisfjörður, einer kleinen Ansiedlung im Osten
Islands: Anna Anders zeigt in jeweils 9:40 Minuten langen Sequenzen auf urspünglich
19 unterschiedlich großen Frames isländische Einfamilienhäuser in ihrer typischen
Farbigkeit. Die Anordnung der Bildschirme entspricht dabei dem Stadtplan des Ortes.
Ob wir es aber mit dokumentarischem Material zu tun haben, als die Hausbewohner
tatsächlich alltägliche Tätigkeiten ausführen, oder es sich doch eher um eine von der
Künstlerin inszenierte Installation oder viele verschiedene Performances handelt,
bleibt ungewiss.
Schnelle Polaroids in schier altmeisterlicher Manier gemalt präsentiert uns
Edward B. Gordon (*1966 Berlin / London). Augenblicksfänger sind sie genannt
und in der Tat lässt er keinerlei Augenblicke aus. Neben größerformatigen Gemälden
in seinem Gesamtwerk verfertigt er – Daily a Painting – seit 2006 jeden Tag ein 15 x

15 cm großes Tagesbild , das er im Netz veröffentlicht und meistbietend versteigert.
Insbesondere dem städtischen Alltag entnommen (Berliner Straßenszenen, Paris mit
Eiffelturm, Wäsche auf der Leine) sind auf diese Weise bisher über 4.000 Arbeiten
entstanden und über die ganze Welt verteilt worden.
Im krassen Gegensatz dazu lebt die scheue Malerin Paula Pelz (*?, Stuttgart)
gänzlich zurückgezogen, wenngleich nicht weniger produktiv. Mit every-day-people
malte sie im Jahr 2019 jeden Tag 365 Tage lang jeweils ein Portrait. Als Modell
mögen ihr Freunde und Bekannte gedient haben, letztlich geht es ihr jedoch nicht
um Abbildhaftes und Ähnlichkeiten mit lebenden Personen. Wo wollte sie diese
angesichts ihrer eremitischen Lebensweise auch kennengelernt haben? Vielmehr ist
es ihr um das Portraitbild als Gattung der bildenden Kunst an sich zu tun, Fragen
nach Identität, also um „das innere Abbild […] erinnerter Personen“, wie es ihr
Bruder Jan-Hendrik Pelz beschreibt, der sich – selber Künstler – intensiv um das
künstlerische Werk seiner begabten Schwester sorgt.
Eine ebenso staunenswerte Konsequenz bezeugen die Bildtagebücher von Horst
Peter Schlotter (*1949, Weil der Stadt). Jedes Jahr lässt er sich nämlich eine
Anzahl von Blanko-Büchern anfertigen, die er seit 1980 Tag für Tag jeweils mit einer
Arbeit versieht. Die Zeichnungen, Collagen, übermalte Fotografien, Textnotizen und
vieles andere mehr nehmen mal nur einen Teil einer Seite ein, mal breiten sie sich
über die gesamte Doppelseite bis hin zu Materialarbeiten aus. Im Unterschied zu
Einzelwerken, die in den Verkauf und in Sammlungen gelangen, bleiben diese
autobiografischen Kompendien als kompaktes Erinnerungsarchiv erhalten und laden
ein zum Blättern durch das eigene Leben und Erleben.
Ganz anders Martin Graf (*1969, Hamburg), der zwar ebenfalls jeden Tag eine
Zeichnung erstellt, diese aber ausschließlich in digitaler Form, auf verschiedenen
Tablets, und das in Windeseile. Sie enthalten spontane Alltagsimpressionen und
werden – mit Titeln oder Text versehen – umgehend im Internet veröffentlicht, wo
ein eingeschworenes Publikum die Tageszeichnungen regelmäßig seh(n)süchtig
erwartet. Der Papiermechaniker , wie er sich selber nennt, sagt selbst: „Anfang 2012
kam ich auf die gute Idee, jeden Tag ein Bild zu zeichnen, denn: ‚One drawing a day
keeps the doctor away!‘” Die Einzelblätter auf dem Bildschirm aneinandergereiht
entsteht eine Art Trickfilm, der an Comics denken lässt.
Zuletzt zu Willy Wiedmann (1929–2013), seines Zeichens bildender Künstler, Musiker
und Komponist, Schriftsteller und Galerist. Nach der Ausmalung der Pauluskirche in
Zuffenhausen arbeitete dieser 16 Jahre lang an seinem Bibel-Projekt. In 3.333
Bildern, die in 19 Leporellos zusammengefasst sind, gibt er das komplette biblische
Geschehen in dem von ihm als polykoner Malerei beschriebenem Stil wieder.
Größer – meint man – könnte der Kontrast seiner Wiedmann Bibel zu den vorgenannten
digitalen Comic Strips nicht sein. Doch im Grunde spannt sie in ihrer
Eigenart mühelos den Bogen zu einer ornamentalen Archaik, wie sie z.B. die frühe
Reichenauer Malerschule (10. Jahrhundert) repräsentiert, die mit reichen Mäanderund
Rankenwerk geschmückten Fresken nichts anderes als ein frühmittelalterlicher
Comic, eine Bildergeschichte für die Gläubigen, die des Lesens nicht mächtig waren.
Wenn wir also von Selbst- und Weltvergewisserung mittels des alltäglichen Tuns und
dem Verstreichen von (Lebens-)Zeit in den hier in der Ausstellung gezeigten
Varianten sprechen, sind wir auch mit den Fragen individueller Vergänglichkeit
befasst. Mit der Konzentration auf jeden einzelnen Moment, Tag für Tag, die sich
darin wiederholenden Routinen und Rituale, die Linien, die Seiten, die Knoten, die
vielerlei Gesichte(r) – meditativ geerdet oder aber obsessiv bedrängend – scheinen
die Momente eines Memento Mori auf. – In Punxsutawney, in dem kleinen
pennsylvanischen Städtchen, aus dem einmal fast philosophisch filmreif ein
Murmeltier täglich grüßen durfte, würde das heißen: „Ja, aber was ist, wenn es kein
Morgen gibt? Heute gab’s nämlich auch keins.“ (Zitat im Film Bill Murray alias Phil
Connors, 1993)
Clemens Ottnad M.A., Kunsthistoriker (Stuttgart)
Geschäftsführer des Künstlerbundes Baden-Württemberg