Kleider machen Leute – Eröffnungsrede 2.10.2011

Gudrun Knapp Ausstellungseröffnung, Steiner am Fluss, Plochingen, 2.10.2011 Kleider machen Leute

Ganz bestimmt kennen Sie diesen Spruch. Vielleicht kennt der eine oder andere sogar noch aus der Schule die ganze Geschichte der gleichnamigen Novelle des Schweizer Dichters Gottfried Keller.

Sie handelt vom Schneidergesellen Wenzel Strapinski, der sich trotz Armut sehr gut kleidet. Er gelangt in eine fremde Stadt und wird dort wegen seines Äußeren für einen polnischen Grafen gehalten. Nachdem er aus Schüchternheit versäumt hat, die Verwechslung aufzuklären, versucht er zu fliehen. Er lernt eine junge Dame kennen, die Tochter eines angesehenen Bürgers. Die beiden verlieben sich ineinander, worauf der Schneider die ihm aufgedrängte Grafenrolle weiterspielt. Ein verschmähter Nebenbuhler sorgt dafür, dass der vermeintliche Hochstapler entlarvt wird. Auf der Verlobungsfeier kommt es dann zum Skandal. Strapinski flieht, seine Braut aber findet ihn, rettet ihn vor dem Erfrieren und stellt ihn zur Rede. Als sie sich davon überzeugt hat, dass seine Liebe echt ist, bekennt sie sich zu ihm und setzt die Heirat durch. Der Schneider gründet mit ihrem geerbten Vermögen einen Tuchhandel und bringt es zu Wohlstand und Ansehen. Kleidung ist heute mehr denn je ein wesentliches Element in unserem Kulturkreis. Wir alle wollen gut aussehen, denn mit der richtigen Kleidung gilt man mehr.

Der äußere Anschein, die Konformität mit der Norm, die Erfüllung von Erwartungen, das bedeutet schon etwas, das ist wichtig. Dazu muss man auch noch den Regeln seiner sogenannten Peergroup, der Altersklasse , der sozialen Schicht und der Clique, in der man sich bewegt entsprechend angezogen sein. Ganz bestimmte Marken und Designer Labels sind dabei besonders angesagt.

In manchen Shopping Centern kampieren junge  Leute vor dem Eingang, um sich die beste Ausgangsposition beim Einkauf zu sichern. Mit Viehschleifen wie am Flughafen reglementieren Mode-Labels wie Hollister oder Abercrombie & Fitch gar den Zutritt zu ihren „Stores“, wie die Geschäfte in den modernen, großen Einkaufszentren und den Metropolen heute heißen, nur um dann, im Laden selbst, wo die Verkäufer Store-Modells heißen und  mit freiem Oberkörper posieren und den Wunsch noch verstärken sollen, ein Stück dieser hoffnungslos überteuerten Klamotten zu ergattern. Alter der Betroffenen: sehr jung. Tendenz fallend. Wer nicht mitmacht, ist nicht in, ist nicht cool, mehr noch: der ist uncool, der ist out.

Shoppen ist ein Massenphänomen unserer Konsumgesellschaft. So manche und mancher definiert seinen Selbstwert über die Frage, was man, respektive Frau sich leisten kann. Also wird Shoppen zu einer wesentlichen, wenn nicht zur bestimmenden Freizeitbeschäftigung. Dafür wird Geld gebraucht. Wenigstens weiß man dann auch, wofür man arbeitet.

Die Arbeiten von Gudrun Knapp beschäftigen sich also beileibe nicht mit einem Randphänomen! Nein, wir finden uns mittendrin in dem, was uns und unsere Mitmenschen umtreibt. Denn Kleider machen tatsächlich Leute. Das wusste Gottfried Keller ganz genau, dessen Schneidergeselle sich  mit Hilfe seines Outfits in die bessere Gesellschaft katapultiert.

Die Kleider, die Gudrun Knapp uns vorstellt, halten uns einen Spiegel vor und zeigen uns genau das, was uns wichtig ist:

  • das Ballkleid
  • die neue schicke Jacke
  • das Dirndl für den Wasenbesuch
  • der reizende Bikini
  • das für Normalsterbliche unerreichbare Royal Wedding Dress
  • und wenn wieder die Sommermärchen ausgerufen werden, die Fußball Trikots, notfalls für daheim vor dem Fernseher

Fragt man Gudrun Knapp danach, was sie umtreibt, was ihr wichtig ist in ihrer künstlerischen Arbeit, spricht sie von den unbeachteten Dinge des täglichen Lebens, die ihre Aufmerksamkeit erregen. Das Kleine und vermeintlich Unbedeutende wertschätzen, Spuren suchen, das sich stets Verändernde in Momentaufnahmen festhalten, darum geht es ihr, das sind die Quellen ihrer Inspiration und zugleich auch die Grundlage für die wunderbaren ästhetischen Transformationen des Gefundenen, mit denen sie uns hier erfreut und überrascht.

In einem typischen Akt des Alltäglichen nehmen sie ihren Ursprung. Als Abfallprodukt der Wäschetrocknung  werden sie üblicherweise als lästige Reste achtlos entsorgt, die Flusen-Fließe, mit denen Gudrun Knapp arbeitet.

Im Trockner vermischen sich Fasern aus allen getrockneten Textilien. In allen Farben und Formen vereinigen sie sich zu einer neuen komprimierten Masse. Fließe unterschiedlichster Farbigkeit, Größe und Dichte entstehen. Verfilzt und verwoben wie  ein kleiner Teppich werden sie dem Trocknersieb entnommen.

Für Gudrun Knapp lohnt es sich, dieses Material sorgfältig zu betrachten, es zu sammeln, zu ordnen, neu zu bewerten und neu zu formen.

Wie eine Direktrice entwirft sie ihre Kollektion, schneidet die Fließe und näht neue Stücke daraus. Die Zeichnungen, die dabei entstehen, sind ein eigenständiger Werkzyklus. Gekonnt und mit leichter Hand zu Papier gebracht sind sie nicht nur Entwürfe, Muster und Vorlagen für die späteren Miniatur-Textilien, nein, sie sind auch eine humorvolle Entlarvung der Wünsche und Versprechungen, die uns die Mode-Industrie mit ihren ausgefeilten Werbestrategien tagtäglich mit geballter Kraft suggeriert.

Und wie in der Auslage teurer Läden werden die neu entstandenen Hemden, Kleider, Hosen, Pullover ausgestellt. Die Fähigkeit, getragen zu werden, haben sie zwar verloren, bergen nun aber durch ihre Läuterung und ihre Verwandlung jede Menge Spuren: Papierreste, Federn, Fasern, Überbleibsel des Alltags. Es lohnt sich auch für uns, einmal ganz genau hinzuschauen, denn es gibt sehr viel zu entdecken!

Das Flusenmaterial begegnet uns aber nicht nur in Form geschneiderter Objekte. In den skulpturalen Arbeiten kombiniert sie ihr Ausgangsmaterial zu mal mehr, mal weniger kompakten Formationen.

Gesammelt von einzelnen Menschen sind diese Lebenslagen, wie Gudrun Knapp diese Stücke nennt, so etwas wie ein Spiegel persönlicher Schicksale, kleine Chronologien individuellen Lebens. Es sind vor allem Spuren der Kleider, die von den Sammlern oft und immer wieder getragen werden. Was haben sie in diesen Kleidungsstücken erlebt? Welche Erinnerungen verbindet der- oder diejenige mit diesen Augenblicken? Sind die „Lebenslagen“ vielleicht so etwas wie eine andere Form von Fotoalben?

Und wie um den Verwertungsprozess auf die Spitze zu treiben greift Gudrun Knapp am definitiven Ende ihres Arbeitsprozesses noch einmal zu ihren Zeichenstiften. Staub und Fusselteilchen, die am Ende auf der Arbeitsfläche herumliegen, stehen ihr Modell. In bunter und wilder Form liegen sie verstreut. Was ihr dabei gelingt sind wunderbar zarte und zugleich geheimnisvolle Zeichnungen, die den unsichtbaren Zauber der wirklich allerletzten Reste einfangen, die man normalerweise einfach vom Tisch wischt.

Nach der Umformung und der Rücktransformation nehmen die Fließe wieder eine Gestalt an, die auf die ursprüngliche Herkunft der Fasern verweist. Leise und unspektakulär formuliert Gudrun Knapp ihre Kritik: das, was ganz unten abfällt aus dem Mode-Zirkus, transportiert sie wieder ganz nach oben, und darüber hinaus, auf die Ebene der Kunst: Kunst, die ungewöhnlich ist, die erstaunt und verblüfft und die Freude macht.

Dr. Raimund Menges, Stuttgart 2. Okt. 2011