Lebenslagen

In einem typischen Akt des Alltäglichen nehmen sie ihren Ursprung. Als Abfallprodukt der Wäschetrocknung

werden sie üblicherweise als lästige Reste achtlos entsorgt, die Flusen-Vliese, mit denen

Gudrun Knapp arbeitet.

Im Trockner vermischen sich Fasern aus allen getrockneten Textilien. In allen Farben und Formen

vereinigen sie sich zu einer neuen komprimierten Masse. Vliese unterschiedlichster Farbigkeit, Größe

und Dichte entstehen. Verfilzt und verwoben wie ein kleiner Teppich werden sie dem Trocknersieb

entnommen und sorgfältig betrachtet, gesammelt und geordnet, um dann neu bewertet und neu

geformt zu werden.

Wie eine Direktrice entwirft sie ihre Kollektion, schneidet die Vliese und formt neue Stücke daraus und

wie in der Auslage teurer Läden werden die neu entstandenen Hemden, Kleider, Hosen, Pullover ausgestellt.

Die Fähigkeit, getragen zu werden, haben sie zwar verloren, bergen nun aber durch ihre Läuterung

und ihre Verwandlung jede Menge Spuren: Papierreste, Federn, Fasern, Überbleibsel des Alltags.

Das Flusenmaterial begegnet uns aber nicht nur in Form geschneiderter Objekte. In den skulpturalen

Arbeiten wird das Ausgangsmaterial zu mal mehr, mal weniger kompakten Formationen kombiniert.

Gesammelt von einzelnen Menschen sind diese „Lebenslagen“, wie Gudrun Knapp ihre Arbeiten nennt,

so etwas wie ein Spiegel persönlicher Schicksale, kleine Chronologien individuellen Lebens. Es sind vor

allem Spuren der Kleider, die von jenen Sammlern oft und immer wieder getragen werden. Was haben

sie in diesen Kleidungsstücken erlebt? Welche Erinnerungen verbindet der- oder diejenige mit diesen

Augenblicken? Sind die „Lebenslagen“ vielleicht so etwas wie eine andere Form von Fotoalben?

Nach der Umformung und der Rücktransformation nehmen die Fließe wieder eine Gestalt an, die auf die

ursprüngliche Herkunft der Fasern verweist. Leise und unspektakulär formuliert Gudrun Knapp ihre Kritik:

das, was ganz unten abfällt aus dem Mode-Zirkus, transportiert sie wieder ganz nach oben, und darüber

hinaus, auf die Ebene der Kunst: Kunst, die ungewöhnlich ist, die erstaunt und verblüfft.